Wenn man an die eigenen Grenzen kommt

Menschen ab 50 sind oft sehr tüchtig, erfahren und engagiert. Trotzdem – oder gerade deshalb – können sie an ihre Grenze kommen.
Wenn man an die eigenen Grenzen kommt
Tiefe Selbstzweifel sind typisch für 50plus-Psychosen.

Ein einzigartiges Therapieangebot im Kanton St.Gallen in Pfäfers empfinden Betroffene dabei als hilfreich, schreibt Reinhold Meier auf «Tagblatt.ch».

"Irgendwann ist mir alles über den Kopf gewachsen", erzählt Hedi F.* (Name geändert) über die Zeit vor dem Eintritt in die Klinik St.Pirminsberg. Die 58-Jährige hat drei Kinder erzogen, jahrelang den Haushalt geführt und mit einem Rezeptionsjob auch noch zum Einkommen in der Familie beigetragen.

Nebenbei war sie im Skiclub engagiert und beim Frauenverein. "Ich habe immer für andere geschaut." Doch irgendwann sei es zu viel geworden, obwohl sie alles gerne machte und tolle Echos bekam.

Tiefe Selbstzweifel stellten sich ein, Motivation und Leistungsfähigkeit litten. "Plötzlich konnte ich einfach nicht mehr." Der Eintritt in die Klinik sei ihr trotzdem sehr schwer gefallen", erinnert sie sich.

Erst nach zwei Jahren habe sie sich dazu durchgerungen. "Scham, Schwäche und Schande nagten an mir, ich fühlte mich grauenvoll." Schon nach kurzer Stabilisierung habe sie aber gespürt, dass sie unbedingt lernen wollte, sich intensiver mit sich, ihren Wünschen und Bedürfnissen auseinanderzusetzen.

"Das Flair im alten Klostergebäude war einmalig, und ich fühlte mich sofort wohl unter Gleichaltrigen", erzählt sie rückblickend von der "Psychotherapie 50 plus", wie die vor drei Jahren gegründete Spezialstation offiziell heisst.

Gleichwohl sei es ihr zunächst nicht leicht gefallen zu akzeptieren, dass sie nun stationäre Patientin in der Psychiatrie war. "Aber ich wollte endlich Therapie." Das Programm habe sie als vielfältig erlebt und voll guter Anstösse. Die Gruppengespräche und das gemeinsame Kochen gaben Impulse im Zusammenleben.

"Das künstlerische Arbeiten unter einfühlsamer Anleitung des Therapeuten half mir, meine Stärken wieder zu entfalten, es unterstützte die Gesprächstherapie mit nicht sprachlichen Elementen."

Dazu kamen frei gewählte Angebote wie Nordic Walking, Frauentanzen und Aromatherapie. "Der ganzheitliche Ansatz und die Einzelgespräche mit der Bezugsperson sowie der Psychologin halfen mir, wieder zu mir zu kommen", sagt F. Viel Geduld und Akzeptanz sei nötig gewesen, um zu lernen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.

"Ich habe ein Heft mit eigenen Notizen geführt - der Klosterhof war meine Oase dafür." Drei Monate habe sie für diesen Weg gebraucht. "Allmählich fühlte ich mich aber besser.

Ich habe gespürt, wie die Lebensfreude zurückkam." Vor dem Austritt habe sie dann zwar Respekt gehabt. "Doch das Wichtigste war, dass ich gelernt hatte, mich wieder wertschätzen zu können." Heute stehe sie ohne Scham offen dazu, dass sie stationär in der Psychiatrie war. "Das war eine meiner wertvollsten Lebenserfahrungen."

Für Regula Meinherz, die leitende Ärztin der Klinik, steht der Weg von Hedi F. beispielhaft für ein umfassenderes Problem von reiferen Personen. "Eingeschliffene Verhaltensweisen und falsche Glaubenssätze können speziell Menschen ab 50 an die Grenze bringen."

Sie hätten vieles geleistet, und Scheitern sei für sie ein Fremdwort. Umso ratloser seien sie, wenn es plötzlich nicht mehr gehe. "Das wird oft als Versagen erlebt, bis hin zum seelischem Zusammenbruch, Substanzmissbrauch oder Suizidversuch."

Dann sei eine Neubesinnung oft hilfreich, pflichtet Abteilungsleiter Roger Sperandio bei. "Es geht darum, sich mit seinen schädlichen Glaubensätzen auseinanderzusetzen und einen neuen Umgang mit auftretenden Schwierigkeiten zu lernen", betont er.

Der Abstand zum Alltag trage dazu bei, Prioritäten neu zu setzen und sich seiner Ziele bewusster zu werden. "Es ist schade, dass Patienten damit oft warten, bis es gar nicht mehr geht", bedauert Meinherz.

Rückblickend hiesse es dann oft: "Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich früher gekommen." Das stationäre Angebot ist im Kanton St.Gallen in dieser Art einzigartig. Ambulante Therapien oder Burn-out-Kliniken seien anders ausgerichtet, betont Meinherz.

"Bei uns spielt der psychosoziale Aspekt, also das Zusammenleben, als Lernfeld eine wichtige Rolle." Auch die Auseinandersetzung mit der spirituellen Dimension des Lebens sei gefragt.

Darum gehöre unterstützende Seelsorge als freiwilliges Angebot zum gern genutzten Spektrum. Ein Eintritt auf die Station sei selbstständig oder nach Abklärung durch Hausärzte wie regionale Psychiatriezentren möglich, die Kosten durch die Grundversicherung gedeckt.

Nach nun drei Jahren Erfahrung werte man das Angebot denn auch als Erfolg.


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