Schluss mit den Altersprivilegien!

Verbilligungen für Pensionierte bei den SBB, im Museum oder Kino sind ein alter Zopf. Schreibt R.Scheu in seinem Kommentar in der NZZ am Sonntag.
Wer will, soll länger arbeiten dürfen.
Wer will, soll länger arbeiten dürfen.

Wer seinen 65. Geburtstag feiert, darf auch für den Rest seines Lebens auf Geschenke zählen. Besucht der Jubilar im Kunsthaus Zürich die Chagall-Ausstellung, bezahlt er für den Eintritt anders als andere Erwachsene bloss 17 statt 22 Franken.

Begleitet die Jubilarin ihren Enkel in das 3-D-Animationsfilm-Spektakel Die Croods, bekommt sie einen Platz in der Top-Class-Estrade für 16 statt 20 Franken. Natürlich ist auch für eine verbilligte Anreise gesorgt. Vielbewegte Pensionäre erhalten das Generalabonnement erster Klasse 1300 Franken unter dem Normaltarif: für 4500 Franken.

Mein Vater, 66 Jahre alt, Automechaniker, seit über 30 Jahren selbständig erwerbend, ist zwar kein typischer Museumsbesucher und verabscheut von Berufes wegen den Transport mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Aber selbst wenn er einmal ins Kino geht, hat er mir versichert, verzichte er auf Spezialrabatte für AHV-Bezüger.

«Denn wo eine Privilegierung ist, da ist auch eine Diskriminierung.» Kleine Rabatte als vornehme Form der Alters-Privilegierung? Zuerst ist nüchtern festzustellen: Die Generation, die sich heute pensionieren lässt, hat in der besten aller Arbeitswelten gelebt - die meisten hatten über vier Jahrzehnte Gelegenheit, in einer boomenden Wirtschaft zu arbeiten, zu sparen und zu investieren.

Das heisst selbstverständlich nicht, dass es heute keine Altersarmut mehr gäbe. Aber es darf als Errungenschaft gelten, wenn heute viele ältere Menschen zu den Gutbetuchten zählen. Ungeachtet ihrer komfortablen Lage nehmen sie - wie wir alle - gerne, was ihnen frei Haus geliefert wird.

Die altersbedingten Empfänger staatlicher Transferleistungen sind in den ausgebauten Wohlfahrtsstaaten zur wichtigsten Klientel des politischen Establishments geworden, und sie wächst dank steigender Lebenserwartung rasant. Das ist auch gut so - geblendet von demografischen Horrorszenarien, führen wir uns kaum mehr vor Augen, dass unsere Gesellschaft damit auch an produktiven Jahren ständig zulegt.

Dies bedeutet zugleich mehr politische Macht für eine neue Gruppe von Stimmenden und Wählenden - und mehr politische Bewirtschaftung derselben. Initiativen wie AHV plus - zehn Prozent höhere Renten für alle - sind erst der Anfang einer neuen Politik, die sich auf diese Kundschaft spezialisiert hat.

Mein Vater hält das für zynisch und stimmt bei Vorlagen, die sein Leben im Alter betreffen, konsequent nach den Präferenzen von mir und meiner Schwester ab. Gleichzeitig arbeitet er auch nach 65 weiter und entrichtet schön brav seine AHV-Abgaben, während er zugleich eine AHV-Rente bezieht.

In der Schweiz arbeitet nur eine von sieben Personen zwischen 65 und 74, obwohl dies gemäss Umfragen drei oder vier von sieben gerne täten. Die Hälfte der Berufstätigen erlebt die Pensionierung als Zwangspensionierung. Warum nur machen sie gute Miene zum bösen Spiel?

Die Altersguillotine ist in der Schweiz und anderswo in Europa fest etabliert, als wäre sie ein Naturgesetz. Dabei widerspricht sie aller Evidenz. Erstens stellen 65 Lenze heute anders als vor hundert Jahren kein Alter mehr dar - und zweitens weiss die Forschung, dass die Vita activa auch nach 65 grosses Glückspotenzial verspricht.

«Aktiv beschäftigt zu sein», schreibt der Ökonom Bruno S. Frey, «ist glücksstiftend, und zwar über die Tatsache hinaus, dass damit auch Einkommen erzielt wird.» So mancher nimmt sich viel vor für die Zeit nach 65 - um dann bloss festzustellen, dass ihm die Arbeit - also Sinn, Anerkennung, Austausch, Lernen - fehlt.

Warum nur schicken sich die meisten Alten in diese Bestimmung, die der Wohlfahrtsstaat für sie vorgesehen hat? Der Grund liegt in einem Narrativ, das dank politischer Bewirtschaftung heute noch wirkt, obwohl es den sozialistischen Geist des 19. Jahrhunderts atmet.

In der Zeit der Industrialisierung galt Lohnarbeit erstens als Zwangsarbeit (Karl Marx), der man am besten möglichst rasch entkommt. Je früher du mit der Schufterei aufhörst, umso besser für dich! Zweitens herrscht nach wie vor die Vorstellung, es sei in der Gesellschaft bloss ein bestimmtes Quantum an Arbeit verfügbar - arbeiten die einen länger, geht den anderen die Arbeit aus.

Je früher du mit der Schufterei aufhörst, umso besser für die anderen! Beides ist nachweislich falsch und wird täglich widerlegt - wir müssten ja längst alle unglücklich und arbeitslos sein. Dennoch leben viele mental noch im 19. Jahrhundert - und schaden damit sich und anderen. In Wahrheit ist Arbeit das perfekte generationenübergreifende Integrationsinstrument.

Wer länger arbeitet, tut nicht nur sich viel Gutes, sondern erweist sich zugleich als wirklich solidarisch mit den Jungen. So können Jung und Alt voneinander lernen und bleiben in Kontakt. Und so verzichten Alte und Junge auf die politische Eigennutz-Maximierung, indem sie sich mit demokratischen Mitteln das holen, was sie von den jeweils anderen kriegen können.

Mein Vater hat recht: Wo Privilegierung ist, ist auch Diskriminierung. Und Diskriminierung gebiert stets neue Diskriminierung. All dies gehört einfach abgeschafft.

René Scheu René Scheu, 39, promovierte an der Uni Zürich in zeitgenössischer Philosophie. Er ist Herausgeber und Chefredaktor des liberalen Autoren- und Debatten-Magazins "Schweizer Monat". Scheu hat mehrere Bücher publiziert und ist Träger des Förderpreises der Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur.


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